Die Frage, ob es ein angeborenes oder zumindest tief verwurzeltes menschliches Bedürfnis nach Gerechtigkeit gibt, beschäftigt Philosophen und Verhaltensforscher seit Langem. Der Blick in die Philosophie, die Psychologie und die Tierwelt liefert spannende Indizien.
In der Philosophie ist die Auseinandersetzung mit der Gerechtigkeit ein zentrales Thema seit der griechischen Antike. Einer der einflussreichsten modernen Denker ist John Rawls. Seine Theorie der Gerechtigkeit basiert auf dem Gedankenexperiment des **Schleiers des Nichtwissens**. Unter diesem Schleier, der uns unsere eigene soziale Stellung, unseren Besitz, unsere Fähigkeiten und sogar unsere Vorstellung vom Guten verbirgt, würden wir uns auf Grundsätze einigen, die eine faire Verteilung von Grundfreiheiten und Gütern sicherstellen – insbesondere für die am schlechtesten Gestellten. Diese Übereinkunft setzt die Annahme voraus, dass Menschen grundsätzlich rationale, aber auch auf Kooperation bedachte Wesen sind, die einen Gerechtigkeitssinn entwickeln.
John Rawls, einflussreicher Denker der modernen Gerechtigkeitstheorie.
Ein besonders eindrücklicher Beweis für eine evolutionäre Verankerung des Gerechtigkeitsgefühls stammt aus der Verhaltensforschung. Das berühmte Experiment mit den Kapuzineraffen von Frans de Waal und Sarah Brosnan, das auch in dem oben verlinkten Video gezeigt wird, demonstriert eindrücklich, dass Primaten empfindlich auf Ungleichbehandlung reagieren.
Im Experiment erhalten zwei Affen für die gleiche Leistung (einen Stein abgeben) unterschiedliche Belohnungen: Der eine erhält ein fades Stück **Gurke**, der andere eine viel begehrtere **Traube**. Der Affe, der weiterhin nur Gurke bekommt, reagiert nach kurzer Zeit mit Wut und Entrüstung. Er weigert sich, die Gurke anzunehmen, und wirft sie teilweise sogar zurück zur Experimentatorin. Dieses Verhalten wird als Ablehnung von Ungleichheit, auch bekannt als **Aversionsreaktion auf Ungleichheit**, interpretiert und zeigt, dass Fairness eine wichtige Grundlage für soziale Kooperation ist.
Kapuzineraffen zeigen im Experiment eine deutliche Aversion gegen Ungleichbehandlung.
Obwohl die konkrete Ausgestaltung und die Anforderungen an eine gerechte Gesellschaft stark kulturabhängig und komplex sind (Soziale Gerechtigkeit), deuten die psychologischen und biologischen Befunde darauf hin, dass ein fundamentales Gespür für **Fairness** und die Ablehnung von ungerechtfertigter Ungleichheit tief in uns verankert ist. Dieses Gespür kann als Basis für das menschliche Bedürfnis nach Gerechtigkeit betrachtet werden. Es dient der Sicherung von langfristiger Kooperation und dem Funktionieren sozialer Gemeinschaften.